Blickpunkt Bethlehem, Nr. 61 - Interview

Blickpunkt Bethlehem, Nr. 61 - Interview


«Der Alltag war völlig unplanbar»

Foto: © Cornelia Bucher-Troxler

Im September 2000 brach die zweite Intifada aus. Bis Februar 2005 verübten bewaffnete palästinensische Gruppen in Israel zahlreiche blutige Anschläge. Die israelische Armee reagierte mit massiver Vergeltung im Westjordanland. Für Bethlehem wurde im Frühling 2002 eine Ausgangssperre verhängt und die Geburtskirche belagert. Martha Troxler (MT) arbeitete damals als hauswirtschaftliche Betriebsleiterin im Caritas Baby Hospital. Sie erinnert sich an 40 lange und harte Tage. Das Interview führte Sybille Oetliker (SOE).

SOE
Nach einem Besuch des israelischen Premierministers Ariel Sharon auf dem Tempelberg in Jerusalem brach 2000 die zweite Intifada aus. Der bewaffnete Aufstand war Ausdruck einer weit verbreiteten Frustration in der palästinensischen Bevölkerung über die nicht erfüllten Friedenserwartungen nach den Oslo-Abkommen. Was bedeutete das für den Alltag in Bethlehem?
MT
Das Leben wurde völlig unplanbar. Man wusste nie, wann ein Checkpoint geöffnet war. Für Bethlehem war die Situation besonders schlimm, weil die Vorbereitungen für die Millenniumsfeier an Weihnachten 2000 liefen. Die Altstadt wurde renoviert und es waren Festlichkeiten geplant. Mit dem Ausbruch der Intifada war alles vorbei. Angst machte sich breit.

SOE
Bethlehem wurde im Frühling 2002 durch die israelische Armee belagert.
MT
Es begann in der Nacht von Ostermontag auf Osterdienstag. Israelische Panzer fuhren in Bethlehem ein. Niemand durfte sein Haus verlassen.

SOE
Sie lebten damals in Jerusalem und arbeiteten in Bethlehem. Wie kamen Sie noch ins Kinderspital?
MT
Wir hatten schon geahnt, dass etwas geschehen würde. Denn kurz zuvor gab es ein Bombenattentat in Israel, an dem Palästinenser aus Bethlehem beteiligt waren. Wir mussten damit rechnen, dass die israelische Armee Vergeltung üben würde. Daher bin ich am Ostermontag schon nachmittags ins Spital gefahren.

SOE
Wenig später wurde die Ausgangssperre verhängt.
MT
Es durfte niemand mehr das Spital verlassen, weder Mitarbeitende noch Patienten oder deren Familien. Wir hatten Fernseher, Radio und das Festnetz-Telefon, um uns zu informieren. Mit den Mitarbeitenden, die im Dienst waren, haben wir einen Krisenstab gebildet und uns als Schicksalsfamilie neu organisiert.

SOE
Waren genügend Lebensmittel und Medikamente vorhanden?
MT
Wir zehrten von Reserven. Zu Beginn herrschte Chaos, Brot und Gemüse fehlten. Später war es an einzelnen Tagen möglich, stundenweise rauszugehen. Die israelische Armee kündigte solche Freiräume jeweils sehr kurzfristig an. In dieser Zeit wurden Lebensmittel und Medikamente beschafft, kranke Kinder aufgenommen, gesunde entlassen, Mitarbeitende ausgetauscht, Sozialhilfe geleistet.

SOE
Nach 40 Tagen wurde die Belagerung aufgehoben. Kehrte wieder normales Leben zurück in die Stadt?
MT
Es gab ein kurzes Aufatmen. Fast alle Familien in Bethlehem hatten Angehörige, die in dieser Zeit in israelische Haft genommen wurden. Viele Kinder waren traumatisiert. Und: In dieser Zeit wurde mit dem Bau der Mauer zwischen Jerusalem und Bethlehem begonnen. Die israelische Armee hat dafür hunderte von Olivenbäumen entwurzelt und palästinensisches Land konfisziert. Das sind bis heute sichtbare Folgen der zweiten Intifada.

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